Ich kann Ihnen eigentlich nicht viel erzählen, empfängt. Doch bevor ich dazu komme, meine Fragen zu stellen, sprudelt es bereits aus ihr heraus. Vor neunzig Jahren wurde sie in Neustettin in Hinterpommern, das heute zu Polen gehört, als Tochter eines Gutsbesitzerehepaars geboren. Immer wieder kehren ihre Gedanken während unseres Gespräches dorthin zurück und so erzählt sie mir von den vier Doppelhäusern, in denen die Bediensteten untergebracht waren und von den französischen Gefangenen, die es bei ihren Eltern, die sie immer wieder stolz und voller Liebe erwähnt, ebenso gut hatten, wie die Bediensteten. Ihre Mutter sei eine ganz besondere Frau gewesen, erzählt sie, alle hatten sie gemocht, doch sie erinnert sich auch daran, dass die Mutter nur wenig Zeit für sie hatte, zu viel hatte sie zu tun auf dem Gut. Alles hätten die Lehrlinge mit ihr gemacht, Schlitten fahren gegangen zum Beispiel, oder auch gespielt. Einzig sonntags kroch sie frühmorgens zu ihrer Mutter unter die wohlig warme Bettdecke, denn da war es auch ihrer Mutter vergönnt, etwas später aufzustehen. Mit leuchtenden Augen berichtet sie von den Pferden. Da gab es welche, die zur Arbeit herangezogen wurden, andere für Kutschfahrten und dann gab es die Reitpferde, derer sie sich bediente, wenn sie ausreiten wollte. Sie sei viel alleine gewesen, berichtet sie, der einzige Bruder war jung verstorben. Doch dann kam der Krieg mit seinen verheerenden Folgen. Ab April 1945 fielen immer mehr Städte in Pommern in russische Hand. Ein Jahr waren wir unter den Russen, sagt sie, dann – 1946 – gelang ihnen die Flucht von Stettin nach Kiel, wo sie bei einem Bauern unterkamen, der jemanden für die Tiere brauchte. Als sie davon berichtet, wie sie sich dort, auf dem Bauernhof, vor den russischen Soldaten verstecken musste, wie sie einmal nur knapp einem Angriff entging, gerät sie kurz ins Stocken. Doch dann erzählt sie munter weiter, davon, wie glücklich sie und ihre Eltern sich schätzten, als eine Freundin ihrer Mutter sie schließlich auf ihr Anwesen nach Nürtingen Oberensingen, auf die Oberensinger Höhe, holte. Das war im Jahre 1947. Da fielen Angst und Schrecken von ihr ab. Dort konnte sie sich zum ersten Mal sicher und geborgen fühlen. Noch heute erinnert sie sich an die Freundlichkeit der Nürtinger, mit der sie und ihre Eltern aufgenommen wurden. Nach einigen Jahren zog die Familie auf Einladung eines Pfarrerehepaars nach Wolfschlugen in deren Pfarrhaus. Nach einer gewissen Zeit bauten ihre Eltern in Wolfschlugen ein eigenes Haus. Über diese Jahre hinweg besuchte sie die Frauenfachschule in Feuerbach. Der Übergang ins Berufsleben bei der Schwäbischen Treuhand erfolgte nahtlos. Dort war sie mehr als 27 Jahre als Wirtschaftsleiterin beschäftigt. Während eines Kuraufenthalts in Aachen lernte sie ihren Mann, einen gebürtigen Kieler, kennen, den sie 1967 im Alter von 37 Jahren heiratete. Gemeinsam verbrachten sie einige Jahre in Wolfschlugen im Hause ihrer Eltern, bis sich das Ehepaar Bachmann in Nürtingen-Hardt ein eigenes Haus baute. Doch wieder war es nichts mit der Sesshaftigkeit. Nach einem beruflichen Aufstieg ihres Mannes siedelte das Ehepaar Bachmann nach Nürnberg um, und nicht zum ersten Mal in dieser Unterhaltung berichtet mir Frau Bachmann von einem großen Haus mit Garten, und dass es dort so schön gewesen sei, dass sie und ihr Mann lange überlegten, ob sie nach Nürtingen zurückkehren sollten. Doch da war noch das Haus in Hardt und da war der Vetter, der einzige verbliebene Verwandte, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Er und die Erinnerung daran, wie sie nach dem Krieg in Nürtingen aufgenommen wurden, die Erinnerung an die Freundlichkeit der Menschen hier, gaben schließlich den Ausschlag, dass das Ehepaar Bachmann 1996 nach Nürtingen-Hardt zurückkehrte. Im Jahr 2011 verstarb ihr Mann. Frau Bachmann blieb alleine in dem Haus in Hardt. Nach einem schweren Sturz im Jahr 2019 entschied sie sich für ein Leben im Dr.-Vöhringer-Heim in Nürtingen.
Ich habe immer sehr viel Glück gehabt im Leben, sagt sie mir zum Abschied. Welch schönes Resümee nach einem solch langen und ereignisreichen Leben.
Ruth Edelmann-Amrhein, Autorenkreis Atmosphäre, VHS Nürtingen / 27.09.2021